Kapitel 1




Wie der Regen im Wald



Langsam schoben sich dunkle Wolken vor die brennende Sonne, begleitet von einem immer lauter werdenden Grollen und hellen Lichtblitzen. Erst fielen nur wenige Tropfen, doch in Sekundenschnelle ergoss sich ein lauter Platzregen über den Wald. Der Wind pfiff unnachgiebig und warf die regennassen Blätter der Bäume hin und her Er ließ die Äste sich knarrend beugen, sodass es den Anschein machte, als würden sie jeden Moment brechen.
Der Boden des Waldes Isfyr wurde dort, wo die dunklen Tannen nicht so nah beieinanderstanden, regelrecht schlammig und brachte selbst manche der Tiere zum unwilligen Brummen, bevor sie sich eine trockene Stelle suchen konnten. Für die kleineren der Wesen gab es bei fast jedem Baum einen Schlupfwinkel um den Sturm abzuwarten. Die größeren verbargen sich tief im Wald um zumindest vor den starken Böen sicher zu sein.

Ein nachtschwarzer Rabe sprang von einem Ast zum anderen und plusterte sich krächzend wegen der Nässe auf, ehe er den Boden absuchte. Die Augen – ungewöhnlich Blau anstatt Schwarz - leuchteten bei jedem grellen Blitz in der Dunkelheit hervor, doch ließ er sich davon nicht beirren. Er suchte Beute und wenn es nur eine Maus oder eine Ratte war. Er würde sich sogar mit schon einem verendetem Tier zufrieden geben… wenn es denn sein musste.
Kurz darauf neigte er seinen schmalen Kopf und schien zu lauschen. Geräusche, die im Wald nichts zu suchen hatten, lenkten ihn von seiner Jagd ab: Schritte von einem Menschen oder dergleichen.
Plötzlich war es egal, dass sein Gefieder nass war. Krakeelend schlug er wild mit den Flügeln und erhob sich vom Ast, ehe er zwischen den Bäumen hindurchflog, direkt zu den unschönen Tönen.

Kurz darauf sah er die Menschenfrau.
Das lange, nussbraune Haar klebte ihr nass an Stirn, Schultern und Rücken. Das schlichte Kleid war an manchen Stellen gerissen und starrte vor Schlamm und Dreck des Bodens. Sie war wohl das ein oder andere Mal gestolpert, hingefallen und hatte sich wieder auf die Beine gekämpft. Panisch blickte sie sich um und drehte sich immer wieder im Kreis, um den Weg aus dem Wald zu finden.
Kurz empfand er so etwas wie Mitleid für die Frau. Sicherlich würde sie den Weg hinaus nicht mehr finden. Und selbst wenn sie durch Zufall und Glück wieder auf den richtigen Weg kam, würden sie andere Waldbewohner sicherlich zu erst finden.

Sie wusste, in welchem sie war, was sich darin herumtrieb. Die Angst stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Die Augen wanderten unruhig hin und her, ihr Atem ging stoßweise, das Zittern des Körpers war nicht zu unterdrücken.
Keuchend und mit zittrigen Beinen blieb sie stehen, ehe sie sich an einen Baum lehnte und auf das Bündel in ihrem Arm blickte. Ihre Tochter. Sie war wach, aber schrie und quengelte nicht. Als würde sie spüren, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen durfte... Wobei die Verfolger ohnehin schon von ihnen abgelassen hatten, als sie den Wald betreten hatten.
Sie nahm einen sauber erscheinenden Zipfel ihres zerfetzten Kleides und wischte vorsichtig etwas Dreck vom Gesicht des Babys, wobei sie sachte grinste. „Keine Sorge, meine Kleine… ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert, nur weil er dein Vater ist…“, kam es ihr leise mit bebender Stimme über die Lippen.
Sie atmete tief durch und drückte das kleine Bündel wieder etwas enger an sich, wobei sie sich zeitgleich umsah. Im nächsten Moment hielt sie inne. Sie hörte leises Knacken von Zweigen und Rascheln von Laub. Fast zeitgleich dran leises Knurren aus mehreren Kehlen an ihr Ohr.

Ein halbes Dutzend Wölfe erschien drohend zwischen den Bäumen. Sie wollten gesehen werden. Lang genug hatten sie versteckt die Menschenfrau verfolgt. Jetzt war Zeit für die Hatz.
Die Tiere wirkten wohlgenährt, nicht hungrig und bleckten die Zähne, sodass sie weiß hervorstachen. Geifer tropfte von den dolchartigen Zähnen und zog Fäden, die zu Boden tropften. Die Ohren waren eng angelegt und die Ruten standen waagerecht mit gebauschtem Fell vom Körper ab Sie stellten das Fell am Nacken, Hals und Rücken ab u noch größer zu erscheinen, als sie es ohnehin schon waren.
Sie schienen zu warten… und kurz darauf wusste sie auch worauf.

Hinter den Wölfen tauchten noch sechs weitere auf. Einige fast doppelt so groß wie ihre Gefährten. Sie wirkten alle leicht zerzaust, wild und… schienen nicht begeistert davon zu sein, dass sie hier war.
Die junge Frau schluckte hart und spannte sich an. „Garu…“, murmelte sie leise und drückte ihre Tochter noch etwas enger an sich, wodurch diese anfing zu quengeln.
Sofort zuckten die Ohren des großen, schwarzen Garus, bevor sie sich eng an den Kopf legten.

Die Frau sah das Blitzen in seinen Augen, er schien hämisch zu grinsen und knurrte voller Vorfreude auf den kleinen Happen. Er wollte ihr Kind. Die krallenbesetzten Pfoten bohrten sich tief in den Schlamm um schneller vom Fleck zu kommen.
Wäre sie alleine, würde sie sich wohl ihrem Schicksal ergeben, sich hinlegen, einrollen und auf ihr Ende warten. Aber ihre Tochter würde sie nicht einfach aufgeben. Die pure Verzweiflung und der Überlebenswille für ihre Tochter brachten sie dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen und zu rennen – aufs Geratewohl zwischen den Bäumen und Büschen hindurch.
Sie hörte die Wölfe hinter sich knurren und hin und wieder sogar fiepen. Sie spielten mit ihr. Und dieses Spiel würde sie verlieren, da war sie sich sicher. Das Schmatzen ihrer Schuhe und der Pfoten hinter sich, das Keuchen aus mehreren Kehlen, das Rascheln der Blätter und das Knacken der Äste war das Einzige, das sie noch hörte.
Langsam aber sicher stiegen ihr Tränen in die Augen und rollten schließlich über ihre Wangen.
Sie wollte nicht sterben...
Sie wollte ihre Tochter aufwachsen sehen...
Das Lachen hören...
Die ersten Schritte mitbekommen...
Sie wollte, dass ihre Tochter lebte...
Ein glückliches Leben frei von Sorgen...
Nicht so eines, wie sie selbst es erlebt hatte...

Ihr eigenes Leben war ein einziges Hin und Her gewesen. Sie wurde verheiratet an einen beliebten Mann. Sie mochte ihn ja selbst - zumindest bis er das erste Mal die Hand gegen sie erhob. Als er sie nicht schwängern konnte, wurde es immer schlimmer. Er nahm sich andere Frauen, verprügelte sie selbst regelmäßig und kam betrunken nach Hause, ehe er sie mit Gewalt nahm. Ihr Schreien, Wimmern und Flehen ignorierend, empfand er wohl sogar so etwas wie Erregung und Stolz, da er ihren Geist immer mehr zu brechen schien.
Und dann lernte sie Ihn kennen. Das er ein Garu war, hatte sie nicht bemerkt. Er war ganz anders als Jack, ihr Mann. Er war freundlich, bezirzte sie förmlich und trug sie auf Händen, wenn sie sich heimlich trafen. Von Anfang an war sie ehrlich und erzählte ihm von der freudlosen Ehe, von ihren Träumen und Wünschen. Langsam aber sicher verliebte sie sich in ihn. Sie lagen beieinander und dann… war er weg. Von einem Tag auf den anderen.
Ihre Welt brach erneut zusammen. Dazu kamen Übelkeit und Schwindel. Es brauchte eine Weile, bis sie bemerkte, dass sie schwanger war. Sie war sich sicher, dass das Kind nicht von ihrem Mann war. Schließlich hatte er es bis jetzt nicht geschafft, irgendeine der Frauen zu schwängern, bei denen er lag. Und doch war dieser – schließlich wusste er von ihrer Affäre nichts – der Überzeugung, dass das Kind von seinem Blute war. Die gleiche Überzeugung legte er bei dem Geschlecht des Kindes an den Tag: Ein echter Mann zeugte schließlich nur Jungen.
Als der Abend schließlich kam und sie das Kind gebar, war er natürlich außer sich, weil es kein Knabe war und dann… fielen beiden die sanft spitz zulaufenden Ohren und das leichte Fell an Armen und Beinen auf und sie konnten Eins und Eins zusammenzählen...
Als er ihr den Rücken zudrehte um nach etwas zu greifen, schlug sie ihn mit einem Holzscheit nieder, wickelte ihre Tochter flink in ein Tuch und fing an zu laufen.

Und jetzt? Jetzt war sie hier und rannte vor der Rasse weg, der ihr Liebhaber wohl angehörte. Ob er ein Wolf war, wusste sie nicht. Aber ein Garu war und blieb ein Garu. Und ihre Tochter gehörte dazu. Zumindest zum Teil.
Ob sich die Rasse um Andere ihrer Art kümmerten, die nicht zum eigenen Rudel und deren Blutlinie gehörten, wusste sie nicht. Und das jetzt hier mit ihrer eigenen Tochter zu testen, würde ihr nie und nimmer in den Sinn kommen.
Auch wenn die Flucht aussichtslos erschien, für ihre Tochter würde sie bis ans Ende der Welt rennen.
Das Knurren hinter ihr wurde lauter, sie spürte förmlich den heißen Atem der Wölfe im Nacken und wimmerte leise auf.

Im nächsten Moment wurde sie regelrecht umgerissen, als ein Wolf sie ansprang. Keuchend drehte sie sich dabei etwas zur Seite und fing den Aufprall mit der Schulter ab, sodass ihrem Kind nicht viel passierte. Leise knackte und knirschte diese, bevor sich ein brennender Schmerz in ihrem Arm bis zur Hand und zum Nacken breit machte.
Sie rappelte sich auf und... blickte dem großen Garu genau in die Augen. Er stand vor ihr, hatte den Kopf gesenkt und bleckte die Zähne. Nach Blut und Fleisch stinkender Atem schlug ihr heiß entgegen, als er tief knurrte. Immer wieder. Und sie wusste, dass sie sterben würde.

„Bitte… lasst mein Kind am Leben… Ihr müsst es doch merken! Sie ist eine von euch! Bitte…“, flehte sie leise wimmerte dabei auf, während ihr Arm langsam taub wurde und sie so das Bündel kaum noch halten konnte. Tränen liefen über ihre Wangen und zogen Spuren auf ihrem verschmutzen Wangen.
Der schwarze Garu zögerte und stellte die Ohren etwas auf, ehe er sich mit langem Hals näherte und an dem in Stoff gewickelten Kind schnupperte, was ihn unwillig brummen ließ. Dabei ließ er die Menschenfrau nicht aus den Augen.
Wie er es hasste. Denn auch wenn das Kind zum Teil Garu war, war die Frau noch immer ein Mensch. Und in dem er das Bündel verschonte, half er der Frau, auch wenn diese sterben würde. Unwillig vor sich hin knurrend und dabei die Krallen immer wieder in den Matsch grabend, spannte er sich an. Die innere Zerrissenheit war ihm deutlich anzusehen. Doch dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und blickte auf sie hinab. „Sie darf bleiben, aber du musst sterben, Menschenweib. Du und Deinesgleichen habt hier nichts verloren!“, knurrte er mit seiner tiefen, rauen Stimme, so laut, dass sie zusammenzuckte und ihre Tochter zu weinen anfing.
Schluchzend blickte sie auf das Bündel und strich ihr beruhigend über die Wange. „Pscht… es wird alles gut… Du wirst ein schönes und freies Leben haben… Sie werden sich um dich kümmern. Dir wird es an nichts fehlen…“, murmelte sie leise und blickte dabei nicht auf. Das Letzte, was sie in ihrem Leben sehen wollte, war ihre Tochter.
Sie spürte, dass der Garu näherkam, spürte seine Zähne am Nacken, wie sie langsam die Haut durchbrachen und ins Fleisch eindrangen. Den stechenden Schmerz. Das Brennen ihrer aufreißenden Haut und das Zucken, der freigelegten und zerrissenen Muskeln.
Die Zeit schien sich mehr und mehr zu verlangsamen, als ihr das Blut in kleinen Bächen über Hals und Nacken ran. Es fing laut an in ihren Ohren zu pochen, immer langsamer. Das Atmen selbst wurde von Mal zu Mal schwerer. Die Augen offen und sich selbst oben zuhalten war schier unmöglich. Vielleicht hielt der Garu sie sogar mit seinem festen Biss in der Aufrechte.

Sie ließ den Blick nicht von ihrer Tochter, die sich wieder beruhigt hatte und still mit großen Augen zu ihr auf sah.
„Es wird alles gut werden...“, kam es leise von ihr, bevor ihre Augen den Glanz verloren und ihr Körper erschlaffte.

Fast zeitgleich ließ der Garu sie los, sodass sie mit dem Kind zu Boden glitt und schnaufte tief. Ein toter Mensch – gut, den konnte man verarbeiten – aber ein fremder Welpe, der womöglich nicht mal ein völliger Garu war?
Noch während er überlegte, schob er mit der Schnauze die Frau vom Kind und beobachtete dieses unwillig. Etwas pummelig… sicherlich würde es viel zu viel fressen. Schnaubend setzte er sich langsam hin und knurrte leise, während sich eine etwas kleinere Fähe an ihm vorbei drückte und vorsichtig in den Stoff biss um so das Kind im Maul tragen zu können. Seine Partnerin würde sich zum größten Teil um dieses kümmern, wie er sie kannte.
Derweil packten zwei der Wölfe die so eben verstorbene Menschenfrau und trugen sie in die selbe Richtung.

Der große Schwarze selbst blieb an der Stelle sitzen und legte mit den übrig gebliebenen Wölfen und Garu den Kopf in den Nacken. Stumm blieb er eine Weile so, bevor er zeitgleich mit ihnen langgezogen und weitreichend jaulte. Um alle zu warnen, sich dem Wald zu nähern.

Als die Wölfe sich teils im Wald verteilten und teils wieder zum Bau zurück kehrten, neigte der Rabe seinen Kopf krächzend, bevor er wild mit den Flügeln schlug und der Fähe samt Welpen folgte.

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