Prolog


Die Welt Midras.

Durchtränkt von uralten Legenden, Sagen und Mythen.
Über jeden Flecken dieses Planeten gibt es eine Geschichte. Worte, von einem zum anderen weitergetragen, geraten teils in Vergessenheit, werden teils weiter gedichtet oder verfälscht.
Natürlich sind nicht alle dieser Geschichten wahr. Sehr viele sind den Hirngespinsten und Ängsten der Menschen, Zwerge, Elfen und all den anderen Völkern zuzuschreiben. Viele verfehlen ihr Ziel nicht und versetzen vor allem die Kinder in Angst und Schrecken.


Die Geschichte des Schreckens ist eine eben solche.

Eine auf zwei Beinen laufende, knapp zwei Meter große, schwarze Bestie. Den sehnigen Körper mit strohigem, blut- und schmutzverkrustetem Fell bedeckt, welches in alle Richtungen absteht. Blutende alte und neue Wunden überall. Abgebrochene Pfeile in den Muskeln und doch nicht einen Moment geschwächt. Sechs messerscharfe Krallen an jeder der vier riesigen Pranken. Zwei Reihen kleiner, scharfkantiger Zähne in einem langen, knochigen unersättlichen Maul mit blutig geifernden Lefzen. Kleine gelbe Augen, die einen keinen Moment zu verlieren scheinen. Und ein regelrecht giftiger Blick, der einen bis ins Mark erschüttern lässt.

Der Schrecken entführt des Nachts unartige Kinder und Diebe. Hin und wieder erwischt es allerdings auch einen Bauern oder eine Kuh.

Man hört ihn nicht, obwohl er groß und mächtig ist. Meist spürt man erst den nach verfaultem Fleisch und geronnenem Blut stinkenden Atem im Nacken und man weiß, dass es zu spät zum Flüchten ist. Und nur, wenn er die Gänsehaut an den Armen der Opfer sieht, wie sich die Haare aufstellen, erlaubt er es sich, die Zähne zu blecken und leise zu knurren. Er packt seine vor Angst erstarrte Beute fast schon vorsichtig um sie so gut wie unversehrt mit in seinen Bau zu nehmen, welche voller Diebesgut, Knochenbergen, verfaulendem Fleisch, Exkrementen und Lumpen ist.

Erst dort lässt er sein Beutestück wieder los, labt sich bei lebendigem Leib an den Innereien seiner Opfer, genießt regelrecht deren vor Pein schrilles Kreischen und Schreien, bevor er sie vom Leid erlöst, sie köpft und sich zur Ruhe bettet.

Es heißt, indem er das Herz sein Auserwählten frisst, nimmt er deren Geschichte in sich auf. Erst dann erfährt er, ob er ein richtiges Opfer oder einen Unschuldigen erwählt hat.
Wenn ersteres zutrifft, legt er sich nieder, schläft sich aus um am nächsten Tag erneut auf Pirsch zu gehen.
Wenn allerdings zweiteres der Fall ist, ertönt sein Jaulen über viele Meilen. Und die anderen Wesen wissen, dass er sich nun auf die Bluthatz macht. Alles und jeden zerreißt, was ihm zwischen die Pranken kommt, bis er sich schließlich niederlegt.


Natürlich ist das nur eine ausgedachte Geschichte… Und falls sie doch ein Körnchen Wahrheit enthält, geriet diese schon lange in Vergessenheit. Man hofft einfach, dass es ihn nicht gibt und verschließt aber dennoch Türen und Fenster, nur zur Sicherheit.

Es gibt auch solche Geschichten, bei denen man weiß, dass sie wahr sind. Eine von diesen handelt von tierischen Gestaltenwandlern.

Sie selbst nennen sich Garu.

In ihrer eigentlichen Tierform werden Garu zum Teil doppelt so groß, wie ihre rein tierischen Gefährten.
Da die Menschen – nicht immer unberechtigt – Angst vor ihnen haben, zeigen sich Garu in deren Nähe eher selten in ihrem eigentlichen tierischen Aussehen. Außer solcher Garu, die dem Volk der Hunde, Katzen, Vögel, Mäuse oder ähnlichem angehören und zusätzlich deren Größe haben, traut es sich fast keiner. Wölfe, Tiger, Nashörner, selbst Löwen verstecken sich in ihrer tierischen Form lieber in dichten Wäldern, tiefen Seen und weiten Dünen.

Um sich zwischen den Zweibeinern so gut wie unbehelligt bewegen zu können, nehmen sie das Aussehen eben dieser an. Sie können, soweit sie es gelernt haben, deren Sprachen und fallen dahingehend nur selten auf. Das Benehmen wird nachgeahmt. Die Bewegungen förmlich einstudiert.

Es wurden noch nicht viele Garu als solche in Tarnung entlarvt, wodurch sie an manchen Orten sogar völlig in Vergessenheit geraten sind. Und genau dort leben die weniger menschenscheuen dieser Rasse. Manche von ihnen haben sogar jemanden von einer anderen Rasse geheiratet und Kinder mit ihnen, ohne dass der Partner von ihrer Herkunft weiß.

Allerdings gibt es unter dem naturverbundenen Volk auch solche, die die Menschen meiden. Die wie ihre tierischen Artgenossen nicht in Rassenmischungen leben. Wölfe bleiben unter sich in einem Rudel. Dasselbe gilt für Hirsche, Löwen und dergleichen. Garu, welche den Einzelgängern wie Tigern gleichkommen, streifen meist allein umher und finden sich nur zur Paarung und Aufzucht der Jungen zusammen.

Dann gibt es noch eine dritte Wesensart der Garu. Sie hassen andere Rassen regelrecht, teils auch ihre eigene und machen keinen Hehl daraus. Diese Einzelgänger – oder kleinere Grüppchen – verschanzen sich zum Beispiel in dunklen Wäldern bei abgelegenen Wegen und überfallen die ‚Eindringlinge‘. Wanderer, Jäger, auch einfach nur einfache Elfen, Menschen oder Zwerge, die sich verlaufen… Selten lassen die Garu diese am Leben und wenn doch sind sie meist so verstört, dass sie nie wieder normal leben können.
Niemand weiß, was diese Wesen mit ihren Opfern und Gefangenen machen. Keiner will in ihre Fänge geraten, sodass Geschichten vom bösen Wolf, von Menschen fressenden Bestien erdacht und verbreitet werden. So gibt es Wälder, die von Menschenhand komplett unberührt sind. Seen, von deren Existenz niemand weiß. Orte, die an Ruhe kaum zu überbieten sind.

Natürlich gibt es noch viele weitere mystische und schlichte Legenden in dieser Welt. Dramatische, fröhliche, widerwärtig schlechte und witzige Geschichten machen von Haus zu Haus die Runde. Werden verbreitet, gefürchtet und genossen.

Es werden mit jedem Jahr neue dazu kommen, während alte wiederum vergessen werden.

Die Waage hält sich so immer im Gleichgewicht, wie der Tod und das Leben selbst.

Die Welt Midras steckt voller Überraschungen.

Manche Dinge bleiben wie sie sind, während sich andere von einer Sekunde auf die andere verändern.


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